Wie kann das gehen, Mister Sennett?

KONZEPT | PROJEKTIDEE

Wie kann das gehen, Mister Sennett?
Was ist die Rolle der darstellenden Kunst für die Gesellschaft? Welche Bedeutung hat analoges Arbeiten in Zeiten der "digitalen Revolution"? Was es bedeutet, sich (künstlerischer) Berufung zu widmen?

Der US Amerikaner Richard Sennett kam aus prekären Verhältnissen, wollte Cellist werden, verletzte sich und studierte Soziologe in Chicago, Harvard und dann Geschichte u.a. bei Hannah Arendt. Er hat Bücher über Städte, Arbeit und die Kultursoziologie geschrieben, über Vereinzelung, Orientierungslosigkeit und Ohnmacht moderner Individuen und die Ausübung von Herrschaft.

Am 1. Januar 2023 wurde der renommierte Autor, der inzwischen in London lebt, 80 Jahre alt.

Anfang Dezember 2022 las ich erneut Richard Sennetts Buch “Der flexible Mensch”. Das 1998 erschienene Büchlein beschreibt, inwiefern „Flexibilität das Zauberwort des globalen Kapitalismus“ ist und wie sich diese auswirkt: “Vielleicht der verwirrendste Aspekt der Flexibilität ist ihre Auswirkung auf den persönlichen Charakter. In der Geistesgeschichte bis zurück in die Antike gibt es kaum einen Zweifel an der Bedeutung des Wortes Charakter: es ist der ethische Wert, den wir unseren eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen. Horaz hat geschrieben, dass der Charakter eines Menschen von seinen Verbindungen zur Welt abhängt. In diesem Sinne ist Charakter ein umfassenderer Begriff als sein moderner Nachkomme, die Persönlichkeit, bei der es auch um Sehnsüchte und Gefühle im Inneren geht, die niemand andere erkennt.”

Menschen mit Charakter - als solche habe ich die Personen wahrgenommen, mit denen ich 2021 Gespräche für den Darstellende Kunst Podcast geführt und aufgezeichnet hatte. Inwiefern hat das mit der Zeit zu tun, in der die Generation der nun 75/85 Jährigen groß wurden? Was hat die Berufung für ein Leben in der Kunst damit zu tun? Was ist darstellende Kunst in Zeiten der Digitalität?

Das Anfang 2023 beantragte Stipendium (es gab für den Antrag letztlich keine Jury-Mehrheit) was das Vorhaben, ein Gespräch mit Richard Sennett darüber zu führen - vorbereitet durch eine intensive Lektüre seiner Bücher “Tyrannei der Intimität. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens” und “Handwerk” als starting points der Recherche.

Sennett hatte meiner Gesprächsanfrage zugestimmt und vorgeschlagen, sich dafür mit ihm in London zu treffen.

Als Ergebnis der Recherche sollte die Begegnung aufgenommen, editiert und als Episode des Darstellende Kunst Podcasts veröffentlicht werden.

STATUS DES PROJEKTS

Das Konzept wurde für eine Förderung eingereicht. Die Jury hat sich nicht für das Projekt entschieden. Aktuell gibt es keine Förderung, keinen Produzenten für das Projekt.

Sollte es eine Frage und Interesse an einem Austausch geben, oder eine Zusammenarbeit, gerne (hier) bei mir melden. Die Arbeit an dem Projekt ruht aktuell.

KONTEXT

2021 hatte ich mit der Arbeit am “Darstellende Kunst Podcast” einen (für mich) neuen Weg in der künstlerischen Arbeit eingeschlagen. Die Initiative für die Entwicklung, Produktion und Etablierung des Formats resultierte in Staffel 1 “alte Hasen: Protagonist*innen der Darstellenden Künste in Deutschland - Künstler*innen geboren zwischen den 1930 und 1950er Jahren im Gespräch“. Die Generation, auf deren Schultern wir heute auch stehen und die gerade verschwindet.

Sieben Episoden entstanden mit Künstler*innen aus der Arbeiterklasse, Mittelschicht, Kleinbürger-Großbügertum, auch DDR, Migrationshintergrund. Auch Autodidakten, Amateure mit Wirkungskraft.

In den Unterhaltungen schält sich die menschliche Haltung im Kontext zur Erfahrungs- und Handwerksstrukur des Schaffens heraus. Das archäologische Ausgraben im Labyrinth der Erinnerungen bis zum Anfang war der Dramaturgie des Konzepts geschuldet: Keine Interviews sein zu wollen, aber Begegnungen. Drei Stunden Zeit, um vor Ort (im Atelier, auf der Probebühne, zu Hause, auf der Bühne nach der Premiere am Vorabend...) ein Gespräch zu führen.

Die Zeitzeug:innen werfen darin (selbst-)kritische Blicke auf ihren Gang vom 20. Jahrhundert (“hat uns in extreme Lagen menschlicher Existenz geführt” schrieb Richard von Weizsäcker in seinen Erinnerungen “Vier Zeiten”) ins sichselbstzerstörende 21.Jahrhundert, mit Digitalisierung, Rechtsextremismus, Klimakatastrophe und Coronakrise. Und sie beschreiben ihre Hoffnungen für die zukünftigen Generationen und sprechen von den Erfahrungen, die dazu beigetragen haben, die eigenen Zweifel und Krisen zu überwinden. Der Berufung mit und für die Kunst zu leben erfordert Authentizität, Integrität und Charakter.